Mal wieder etwas zu einem meiner Lieblingsthemen: Radio. Bin gestern abend über diese aus mehreren Sichtweisen hochinteressante Doku zu DT64 gestolpert. Das war das Jugendradio der DDR, und gerade nach der Wende hochinnovatives Radio in einer Qualität, wie ich sie seither nie wieder gehört habe. Bin selber im Oktober 1992 nach Leipzig gezogen und DT64 war einfach nur aufregend cool. Dort gab es oft gegen den Strich gebürstete Beiträge mit Tiefgang, die Musikauswahl war immer wieder voller Überraschungen und die Persönlichkeiten des Teams deutlich zu spüren. Tolle Interviews und phantastische Comedy. Ich war schnell Stammhörer von Dr Kaos, ließ mich jeden Morgen von den Grindichs wecken und die ganzen Musikspecials vom Punk zu Indie zu Techno zu World zu Folk zu experimentell gehörten zu meinem Pflichtprogramm für Allgemeinbildung und musikalisches Weltgeschehen.
Darüber hinaus habe ich weder vorher noch nachher eine solche Hörerbindung erlebt.
In diesem Mikrokosmos läßt sich historisch vieles festmachen was die Nachwendezeit aufregend und scheiße gemacht hat. Einerseits bestand eine riesengroße Freiheit, zu experimentieren und einfach tolle Sachen zu machen, eben weil sie toll waren. Auf der anderen Seite war es ein Kampf gegen konservative Politik, die unflexibel war und sehr, sehr viele Fehler machte. Politisch, diplomatisch, wirtschaftlich. Heute hören wir immer wieder, wie mit Hilfe der Treuhand und der Politik sich einzelne im Wortsinn bereichern konnten und die Wunden falscher Versprechungen sind heute noch vielfach als Industrieruinen sichtbar und in vielen Biographien verankert. Dazu kommt ein gefühltes Plattwalzen der Medienlandschaft, dessen markantester Ausdruck die Querelen um DT64 sind.
Ich glaube sehr, daß ein bedachteres Vorgehen damals einige Probleme heute hätte verhindern helfen können.
Als relativ kurz nach dem Ende dieser Doku der mdr DT64 in mdr Sputnik umbenannt hat, haben wir das immer spuDTnik geschrieben. Ein paar Jahre lang konnten sich noch innovative Teile im Programm halten, aber der mdr setzte eine schleichende Verstromlinienformung durch. Für mich war das finale Ende des Erträglichen erreicht, als 1998 Grenzpunkt Null mit Nachrichten unterbrochen werden sollte, was bei dem Sendungskonzept nicht machbar war. Rex Joswig hat dann auch die Konsequenz gezogen und ist gegangen.
Für mich ist klar: Grenzpunkt Null ist eine DER formativen Radiosendungen für mich, ästhetisch, inhaltlich, von der Ansprechhaltung. Ich habe noch
nie etwas vergleichbar faszinierendes gehört und selber auch noch nicht hinbekommen.
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Grenzpunkt_Null
Für mich war DT64 ganz klar der prägendste Radiosender ever. Kantig, intelligent, offen, stellte hohe Ansprüche an sich selber und die Empfänger. Eine Haltung, die ich sehr geschätzt habe und noch immer hochhalte.
Fun Fact:
Das tolle Community Radio in Halle
Radio Corax hat sich für sein Auto das Kennzeichen HAL DT 64 gesichert.
Wie cool ist das denn?!
Jugendradio DT64 - Chronik einer angekündigten Abwicklung (1992) 1/4
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Jugendradio DT64 - Chronik einer angekündigten Abwicklung (1992) 2/4
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Jugendradio DT64 - Chronik einer angekündigten Abwicklung (1992) 3/4
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Jugendradio DT64 - Chronik einer angekündigten Abwicklung (1992) 4/4
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